DOPPIKSYSTEM
Willkür in der Rechnungslegung?
Im Internet-Infodienst MaxNews vom 18.1.2009 kommentiert Max zum Beitrag (3): „Die staatliche Buchhaltung wurde über Jahrhunderte kameralistisch geführt, doch mit der Umstellung auf die Doppik wird eine betriebswirtschaftliche Buchhaltung überall Gewinn und Verluste aufzeigen. Dies wird dazu führen, dass nicht mehr volkswirtschaftlich Sinnvolles geleistet wird, sondern nur noch Gewinnträchtiges.“
Diese Behauptung bedarf der sachlichen Richtigstellung: Formal gesehen ist die Kameralistik eine reine, zeitraumbezogene Einnahmen-Ausgaben-Rechnung mit separatem, zeitpunktbezogenem Vermögensausweis, der selbstverständlich auch die Schulden enthält. Doch dieses System kontrolliert sich nicht von selbst und auch der innere Zusammenhang zwischen Zeitraum- und Zeitpunktrechnung, also Erfolgsrechung und Bilanz, ist nicht zwingend sichergestellt, so dass die Kameralistik viele Ansatzpunkte bietet, um „Ungenauigkeiten“ oder kriminelle Handlungen der Verantwortlichen zu vertuschen. Anders dagegen das absolut geniale System der Doppik oder der Doppelten Buchhaltung. Ausgehend von einer Eröffnungsbilanz wird hier jeder Geschäftsvorfall auf zwei betroffenen Konten einmal im Soll (+) und einmal im Haben (–) gebucht. Am Ende einer Abrechnungsperiode ergeben sich Erfolgsrechnung und Stichtags-Bilanz vollständig aufeinander abgestimmt und, bedingt durch den „Soll-Haben-Ausgleich“, auch betragsmässig vollständig stimmig. Wenn sich dann zwischen der Soll- und der Haben-Summe oder der Aktiv- und der Passiv-Summe eine Differenz von auch nur 5 Rappen ergibt, liegt ein schwerwiegender Fehler vor, der nicht vertuscht werden kann und dessen schlussendliche Aufdeckung gegebenenfalls zur Aufdeckung eines gewaltigen Betrugsvorkommens führen kann.
Das Problem, das Max indes völlig zu Recht kritisiert, beruht vielmehr auf den zeitlichen buchhalterischen Abgrenzungen, die die Kameralistik allein schon vom System her gar nicht praktizieren kann. Bis etwa 1860 existierten diese zeitlichen Abgrenzungen auch nicht in den Unternehmungen, die ja seit jeher das Doppiksystem praktizierten. Anschaffungen von Sachen und Leistungen wurden in der Periode erfolgswirksam verbucht, in der sie effektiv anfielen. Allerdings saldierten viele Unternehmen kurz vor Geschäftsabschluss die Bücher provisorisch und wenn dann ein zu hoher steuerbarer Gewinn zum Vorschein kam, wurde noch rasch entsprechend „investiert“. Das war dem deutschen Fiskus nicht recht, da er das Ziel anstrebte, möglichst gleichmässige Steuereinnahmen zu erzielen, da er ja zum grössten Teil den fixen Beamtenapparat zu entlöhnen hatte. So kam es 1860 zu entsprechenden Gesetzen im Preussischen Landrecht, durch die die zeitlichen Abgrenzungen in der Steuerbilanz der Unternehmungen vorgeschrieben wurden. Dadurch aber wurde der buchhalterisch ausgewiesen „Gewinn“ zu einer Fiktion gegenüber der tatsächlichen Entwicklung der Finanzen und viele Firmen mussten deshalb für die Bezahlung der Steuern und/oder der Gewinnausschüttung Bankkredite aufnehmen. Ein brauchbarer Lösungsansatz hätte darin bestanden, neben der Steuerbilanz noch eine Handelsbilanz zu führen, in der die zeitlichen Abgrenzungen auf das absolute Minimum reduziert worden wären und so auch dem Gläubigerschutz besser Rechnung getragen worden wäre. Doch das war allen zu unbequem und in der Folge kam dazu, dass alle Länder das preussische System übernahmen. Nun konnten die Schulden sich ungehemmt vermehren, denn denen standen ja in den Aktiven die zeitlichen Abgrenzungen – insbesondere Sachanlagen und Lager – als „Sicherheit“ gegenüber.
Damit aber komme ich zum eigentlichen Problem, das nur in Fachkreisen hinreichend bekannt ist. In der Schweiz liegt dieser Hund in Art. 725,2 begraben: „Wenn begründete Besorgnis einer Überschuldung besteht, so ist auf Grund der Veräusserungswerte eine Zwischenbilanz zu errichten.“ Wenn also eine kreditgebende Bank die „begründete Besorgnis“ für das Vorliegen einer solchen „Überschuldung“ bei einem Kreditnehmer hat, beauftragt sie einen ihr nahe stehenden Experten, eine solche Bilanz zu erstellen. An die Stelle der üblichen Fortführungswerte („going concern“) treten in den Aktiven nun die „Zerschlagungswerte“, deren Festlegung weitestgehend im Ermessensspielraum des bankenseitigen Experten liegen. Im Zweifelfall kann er dabei sogar interessengeleitet von Vorgaben ausgehen. Da aber die Nominalschulden auf der Passivseite der Bilanz unverändert bleiben, entsteht damit quasi über Nacht eine gewaltige Überschuldung – die aber noch nicht „amtlich“ ist. Nun ist der Unternehmer (nennen wir ihn beispielhaft „Merckle“) in der Hand der Kreditinstitute und diesen auf Gedeih und Verderb, gegebenenfalls bis in den Tod, ausgeliefert. Der von den Banken mit dem Unternehmer geschlossene, sittenwidrige und deshalb streng geheime, jedoch überall übliche Knebelungsvertrag wird harmlos als „Stillhalteabkommen“ bezeichnet. Er gewährt den Banken die erforderliche Zeit, um zunächst „ihre Interessen zu wahren“, bevor es im Normalfall zum Konkurs und der gefledderte Rest an Sachwerten und Forderungen in die Konkursmasse kommt.
Diese für das Unternehmertum höchst negative Entwicklung wurde dadurch verstärkt, dass der Buchhalter, in früheren Zeiten eine angesehene Person im Betrieb und als Prokurist direkt unter dem Patron stehend, in seiner beruflichen und gesellschaftlichen Situtation markant entwertet und sogar lächerlich gemacht wurde. Auf diese Weise wurde es möglich, das Szepter dem externen Bücherexperten zu übergeben, der zwar den Betrieb und dessen Produkt überhaupt nicht kennt, von dessen Attest es aber abhängt, ob die Aktionäre den Jahresabschluss genehmigen oder zurückweisen. Viele „neutrale und unabhängige“ externe Bücherexperten haben mit ihren unverlangten „Ratschlägen“ manche Unternehmung in die Verschuldung getrieben und dafür von den Banken „Kickbacks“ kassiert.
Ich gebe die Schriftenreihe „Bieler Wirtschaftsbrief“ nun bereits im 24. Jahrgang heraus. Im BWB Nr. 1 vom 3. März 1986 lautete der Titel des allerersten Beitrags „Willkür in der Rechnungslegung?“ und hatte folgenden Inhalt (die Auslassungszeichen … sind original):
„Im Rahmen einer Veranstaltung der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich deckte Professor Schwartz (Universität Lausanne) den Widerspruch auf, ‚dass einerseits die Nationalbank (SNB) nach dem Gesetz verpflichtet ist, die Jahresbilanz nach der Grundsätzen des Obligationenrechts aufzustellen, und dass andererseits der »sogenannte Gewinn« eine weitgehend manipulierbare Residualgrösse aus ziemlich willkürlichen Bewertungsregeln und ebenso fragwürdigen buchmässigen Operationen … ist. Dies … bringe zum Ausdruck, dass eine kommerziell inspirierte Buchführung der Natur eines Emmissionsinstituts nicht gerecht werde, denn die SNB ist nun einmal kein kommerzielles Unternehmen’ (R. Frei im VATERLAND vom 6.7.1985). Diese hochinteressante Professorenmeinung wirf jedoch zwei weitere Grundsatzfragen auf: 1) Die Konferenz der Kantonalen Finanzdirektoren verabschiedete 1977 ein neues Rechnungsmodell, das unterdessen in praktisch allen Kantonen auf kantonaler und kommunaler Ebene eingeführt worden ist. Damit soll die Rechnungslegung für alle Formen öffentlicher Haushalte (in der Schweiz rund 20.000) harmonisiert werden – grundsätzlich ein lobenswertes Ziel. Allerdings hat die Sache einen gewaltigen Haken, der der Öffentlichkeit bisher verborgen blieb: Das neue Rechnungsmodell unterscheidet sich von der herkömmlichen Form der öffentlichen Rechnungslegung (die Bundesrat Willy Ritschard noch 1983 als ‚die sauberste und klarste Rechnungsführung’ bezeichnete, mit Recht) durch eine weitgehende Übernahme gerade der Prinzipien der kaufmännischen Buchführung in den öffentlichen Sektor. Legt man die Massstäbe von Prof. Schwartz an (die sich vollumfänglich durch unsere Praxiserfahrung bestätigen), gelangt man zur Feststellung, dass ‚eine kommerziell inspirierte Buchführung’ auch der Natur eines öffentlichen Haushaltes ‚nicht gerecht’ wird: Durch ‚willkürliche Bewertungsregeln’, ‚fragwürdige buchmässige Operationen’ und eine ‚weitgehend manipulierbare Residualgrösse’ werden dem Schweizer Volk und den Unternehmern als Steuerzahler Sand in die Augen gestreut, denn das finanzwirtschaftliche Deckungsziel eines öffentlichen Haushaltes wird damit total verwässert und die Verschuldungssumme im Falle eines Haushaltsdefizits kaschiert. Zur Kosmetisierung der tatsächlichen Situation bedient sich also auch der Staat inzwischen eines Rechnungslegungsinstruments, das mit seinem Wesen rein gar nichts zu tun hat. 2) Es ist aber auch nicht einzusehen, warum sich Unternehmer, Manager, Kreditinstitute und Kapitalanleger mit der Ergebnissen einer solchen Rechnungslegung zufrieden geben sollen, wenn es um Fragen der Bonität und der Sicherung der unternehmerischen Handlungsfreiheit geht. Ein solches Führungs- und Entscheidungsinstrument hat seinen Namen nicht verdient. Es richtet nur in guten Zeiten wenig Schaden an, in kritischer Lage führt es durch Falschinformation der Entscheidungsträger geradewegs zum Verlust, wenn nicht Zufall und Glück im Spiel sind.“